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Glykol – Die Mutter aller Lebensmittelskandale

Glykol-Skandal 1985 Glykol-Skandal 1985
Frostschutzmittel im Wein: Der Glykol-Skandal von 1985 löste die erste große Debatte um verseuchte Lebensmittel in Deutschland aus
Quelle: dpa
Vor 25 Jahren schreckten Berichte über verseuchten Wein die Verbraucher auf. Dem Glykol-Skandal folgten viele weitere.

An dem Tag, der den absoluten Tiefpunkt in der Geschichte des Weinbaus markieren sollte, war Andreas Pieroth 15 Jahre alt und seit drei oder vier Tagen in einem Wohnmobil auf dem Weg in den Türkei-Urlaub. Am Steuer saß Vater Elmar, Berliner Finanzsenator und Hauptanteilseigner des traditionsreichen Winzer- und Weinhändlerhauses Pieroth aus Burg Layen in Rheinhessen. Der 9. Juli 1985 war der Tag, an dem Bundesgesundheitsminister Heiner Geißler die Öffentlichkeit vor dem Genuss österreichischen Prädikatsweines warnte. Der könne mit der gesundheitsgefährdenden Chemikalie Diethylenglykol verseucht sein.

Familie Pieroth musste umkehren. „Den Rest des Sommers habe ich damit verbracht, mit einem Vertreter zu unseren Kunden zu fahren und den Wein wieder einzusammeln“, sagt Andreas Pieroth, heute Vorstand des Familienunternehmens. Denn ihr Geschäft importierte Wein aus Österreich. Und nicht nur das, wie sich herausstellen sollte.

Die Mutter aller Lebensmittelskandale

Was damals mit dem Glykolskandal seinen Lauf nahm, ist quasi der Anfang aller Lebensmittelskandale in Deutschland. Es war die Zeit, als Umweltverschmutzung als Problem erkannt wurde, als saurer Regen jedem ein Begriff war, als unverfälschte Produkte zu einem Wert an sich wurden. Der Glykolwein-Skandal wurde wenig später vom Flüssigei-Skandal bei Birkel-Nudeln gefolgt, und es lässt sich über Nitrofen und BSE eine Kette bis zum Gammelfleisch flechten: nachlässige oder gar kriminelle Erzeuger, alarmierte Verbraucher und eine verunsicherte Politik. Was sie hinterlassen, sind zumindest kleine Verbesserungen.

Die Chemikalie, die sich damals im Wein fand, war sehr gut geeignet, um in einer zunehmend umweltbewussten Bevölkerung Angst auszulösen. Sie ist sehr giftig, aber süß. Deutschland mochte lieblichen Wein, allein das Wetter ist hierzulande zu schlecht, um in ausreichender Menge süße Trauben zu erzeugen. Da liegt es nahe, der Sonne nachzuhelfen. Glykol war da nur eine von vielen illegalen Lösungen.

Schon im Januar 1985 hatten Chemiker einer staatlichen österreichischen Untersuchungsanstalt Weine des Jahrgangs 1983 analysiert und dabei bis zu drei Gramm der Chemikalie pro Liter gefunden. Doch wie es zu guten Skandalen gehört, wurde erst einmal geschwiegen. Es wurde April, bis die Öffentlichkeit informiert wurde. Und das auch nur, weil anonyme Anzeigen schon für Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Am 24. April gelangte die erste Mitteilung nach Deutschland, an einen Mitarbeiter des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Auch der behielt sein Wissen erst einmal für sich. Da aber deutsche Zeitungen über Österreich berichteten, ließen die Importeure, darunter Pieroth-Chef Kuno Pieroth, von sich aus Proben nehmen. Und die Werte lagen noch deutlich über den bisher bekannten.

Pieroth stellte den Verkauf der österreichischen Weine ein. Bis Ende Mai entdeckte das Mainzer Landesagrarministerium dann eine Million Liter verseuchten Weines – mit bis zu 8,7 Gramm Glykol pro Liter. Ab 40 Milligramm kann es tödlich wirken. Ein starker Trinker hätte in die Nähe kommen können. Der Skandal war da noch ein österreichischer, was sich aber schnell änderte: Es stellte sich heraus, dass ein Betriebsleiter in einer Pieroth-Abfüllung deutschen Wein unerlaubt mit österreichischem verschnitten hatte. Zudem wurde die Anlage nicht gut gereinigt, weswegen sogar unverschnittener Wein mit Glykol verseucht war. Eine Art Weinpanik nahm ihren Lauf.

Weinbranche stand kurz vor der Pleite

Die Verbraucher warfen ihre edlen Tropfen in die Tonne, der Bierabsatz stieg zuerst einmal, und eine ganze Branche stand vor der Pleite. „Ein halbes Jahr lang haben wir mehr Wein bei den Kunden wieder eingesammelt als verkauft“, erinnert sich Andreas Pieroth. Sein Vater Elmar hat früher über „die schrecklichste Zeit in meinem Leben“ gesagt, dass innerhalb von einigen Monaten 90 Prozent des Betriebskapitals vernichtet wurden. Pieroth hatte im Vorjahr fast 600 Millionen Mark Umsatz gemacht, beschäftigte 3500 Menschen und hatte Verkaufsstellen in der ganzen Welt.

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Ende 1985 war die Firma der Pleite nah. Deutscher Wein war im Ausland praktisch unverkäuflich und im Inland nur noch schwer. Da half es auch nichts, dass die Schuldigen schnell gekündigt wurden und mit den Behörden kooperierten. Überlebt hat Pieroth mit Glück, treuer Kundschaft, viel Eigenkapital, das er in die Firma steckte, und schließlich dank der Wende. „Davon hat unser Absatz stark profitiert, auch wenn wir es wahrscheinlich ohne die Wiedervereinigung auch geschafft hätten“, sagt Andreas Pieroth. Heute hat die Firma deutlich mehr als 400 Millionen Euro Umsatz im Jahr, die Zahl der Beschäftigten liegt bei gut 5000.

Der Skandal brachte einige Verbesserungen. Österreich erließ in kürzester Zeit das strengste Weingesetz der Welt, das naturnahen Anbau stark bevorzugt. Heute kommen aus dem Nachbarland eher teure Produkte, die Winzer leben wieder gut – und sauber, so weit das abzusehen ist. Österreich hat auch Gefängnisstrafen wegen gefährlicher Vergiftung gegen einige der Hauptpanscher ausgesprochen.

Winzer ändern die Anbaumethoden

In Deutschland erwies sich die Politik als viel zögerlicher. Auch heute noch ist das Weingesetz eher unübersichtlich. Wenn heute wieder viele Winzer internationalen Ruf haben, liegt das an den Schlüssen, die sie selbst gezogen haben. Weil die Massenweine nicht mehr zu verkaufen waren, setzten sie auf Qualität. Sie übernahmen Techniken aus dem Ausland, experimentierten mit neuen Trauben und änderten die Anbaumethoden.

„Seien wir ehrlich: Früher war es nicht selbstverständlich, dass Weine sauber waren“, sagte Steffen Christmann, Präsident des Verbandes der Prädikatsweingüter, vor nicht allzu langer Zeit in einem Interview. Und auch wenn durch mehr Kontrollen, fortschrittlicher Analysemethoden und veränderten Geschmack ein Stoff wie Glykol im Wein auch kaum mehr vorstellbar ist, so ist auch heute der Betrug nicht vollkommen ausgeschlossen. Wer zum Beispiel garantiert, dass in der Flasche die Traube verarbeitet wurde, die auf dem Etikett verzeichnet steht?

Andreas Pieroth beispielsweise verweist auf den lange Zeit sehr modischen und teuren italienischen Schaumwein mit dem Namen Prosecco, der nur aus der gleichnamigen Traube erzeugt werden durfte. Einige Jahre lang waren aber Mengen auf dem Markt, die kaum mit dem geernteten Lesegut einer kleinen norditalienischen Region in Verbindung zu bringen waren. Das Angebot an Prosecco sei erst wieder auf seine natürliche Ausdehnung geschrumpft, seit die Traube im Getränk zweifelsfrei nachzuweisen ist.

Die meisten Verbraucher können billigen von teuren Wein kaum unterscheiden, Experten sind nur wenige. Und weil die meisten Verbraucher ihre Grenzen kennen, geben sie auch nicht sehr viel Geld für Wein aus. „Massenprodukte machen 95 Prozent des Weinmarktes aus, die edlen Gewächse, über die viel geschrieben wird, nur fünf Prozent“, sagt Weinhändler Pieroth. Seine Vertreter machen das Hauptgeschäft im Preisbereich von sieben bis neun Euro. Das ist schon viel, der größte Teil des mehr oder weniger kunstvoll vergorenen Rebsaftes findet inzwischen über Discounter wie Lidl oder Aldi zum Verbraucher – in Preisregionen, die in aller Regel unter fünf Euro liegen.

Auch was die Geschmackserziehung angeht, in deren Folge ja inzwischen trocken trinkt, wer etwas auf sich hält, ist Schein von Sein zu scheiden. Neun von zehn Verbrauchern, so Pieroth, würden bei telefonischen Vorgesprächen zwar sagen, sie bevorzugten trockene Weine. Allerdings zeigten sich später häufig andere Vorlieben. „Wenn sie dann tatsächlich bestellen, haben 50 Prozent der Kunden dann doch liebliche Weine auf dem Zettel.“ Insofern müssen sich Winzer auch heute noch gut überlegen, wie sie die Sonne ins Glas bekommen.

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