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Nordrhein-Westfalen Gebührenverweigerer

Profiteur der Debatte um den „Rundfunkrebellen“ Thiel ist die AfD

Seit dem 25. Februar sitzt Georg Thiel in Haft Seit dem 25. Februar sitzt Georg Thiel in Haft
Seit dem 25. Februar sitzt Georg Thiel in Haft
Quelle: Marco Stepniak / Bild am Sonntag
Politik und WDR behandeln den Gebührenverweigerer Georg Thiel mit Härte. Davon profitiert vor allem die AfD. Sie inszeniert sich als alleiniges Sprachrohr aller Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Warum überlassen ihr die anderen Parteien die Bühne?

In der Mittagssonne schwitzen die Demonstranten vor sich hin. Sie haben einen Stand aufgebaut und recken Schilder wie „Free Georg Thiel“ in die Höhe. Postiert haben sie sich vor der Einfahrt eines Messegebäudes in Köln-Deutz. Dort fahren die Mitglieder des WDR-Rundfunkrats ein und aus. „Die könnten Georg Thiel die Freiheit wiedergeben“, sagt Bogdan Jonik, ein kettenrauchender Schwabe mit Bart, der die Mahnwache organisiert. 500 Kilometer sei er gefahren, um „hier für meinen Freund Georg zu protestieren“.

Thiel, 54-jähriger Computerzeichner aus Borken, sitzt etwa 160 Kilometer weiter nördlich in der JVA Münster. Seit dem 25. Februar. Weil er die Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) nicht zahlen will. Und weil er sich weigert, dem WDR eine Vermögensauskunft zu geben. Mit deren Hilfe könnte der Sender die Gebühren per Pfändung einziehen. Thiel aber beteuert, seit 2010 weder Radio noch Fernseher zu besitzen. Deshalb ließ er den Streit eskalieren. Nun steckt er in Erzwingungshaft. Maximal sechs Monate wegen 651 Euro Streitsumme. Doch der WDR, der die Haft beantragte und die sofortige Entlassung initiieren könnte, bleibt hart.

„Unmenschlich“, schimpft Bogdan Jonik am Stand. Journalisten gesellen sich am vergangenen Dienstag dazu – und Sven Tritschler, AfD-Fraktionsvize im Landtag. Tritschler bedauert, dass „keine andere Partei gegen das Leid kämpft, das Georg Thiel ertragen muss“. Gleich darauf räumt er ein, es sei „natürlich ein Alleinstellungsmerkmal, wenn die AfD als einzige Partei gegen solche Zumutungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angeht“. Womit er zweierlei belegt: Profiteur der Debatte um den „Rundfunkrebellen“ Thiel ist die AfD. Und: Die anderen Parteien haben es ihr sehr leicht gemacht, sie überließen ihr bereitwillig die mediale Bühne.

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Auf Twitter gehörte der (von der AfD mitpropagierte) Hashtag #FreeGeorgThiel über Tage zu den meistgelesenen Deutschlands. Und etliche regionale, nationale und internationale Medien berichten seit Monaten über Thiels Haft. Stets erwähnen sie, als einzige Partei setze sich die AfD für den Mann ein. In Interviews singt Thiel, der sich „links“ nennt, daher Loblieder auf die AfD. „Sie haben mich im Gefängnis besucht, und in ihren Fragen konnte ich nichts Rechtsradikales erkennen. Das waren ganz normale, nette Menschen.“ So ließ er sich jüngst in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zitieren.

Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gibt es in vielen politischen Lagern. Manche sind nur gegen die Gebührenpflicht, anderen sind WDR und Co. einfach zu teuer. Einer Civey-Umfrage zufolge wollten 2018 nur 55 Prozent der Deutschen den ÖRR in dieser Form behalten. Laut einer Insa-Umfrage von 2016 plädierten gar 69 Prozent für dessen Abschaffung. Doch in der Debatte um Thiel empfiehlt sich als Sprachrohr dieser großen heterogenen Gruppe einzig die AfD – eine Partei, in der (außerhalb von NRW) Personenzusammenschlüsse wegen des Verdachts rechtsextremer Tendenzen vom Verfassungsschutz beobachtet werden; die den WDR als „Staatsfunk-Propaganda“ verunglimpft; und die sonst selten Milde gegenüber Rechtsbrechern fordert.

Alle anderen Parteien im Landtag vermieden jede Milde, jedes auch nur punktuelle Verständnis für den Protest Thiels. Das zeigte sich, als Freunde Thiels alle Fraktionen anschrieben und baten, sich für eine vorzeitige Entlassung einzusetzen. Reagiert hat nur die AfD. Im Fall Thiel schwanden auch sämtliche Unterschiede zwischen den vier Parteien im Umgang mit dem ÖRR dahin. Bei der ersten von der AfD beantragten Landtagsdebatte sprachen noch vier Redner von CDU, FDP, SPD und Grünen. Bei den drei folgenden aber, zuletzt vergangenen Freitag, traten die vier als Einheitsfront auf und entsandten einen Redner für alle. Sogar die FDP ließ ihre sonst so massive Kritik am ÖRR unter den Tisch fallen. Dabei hatte ihr Experte Thomas Nückel 2019 vorgeschlagen, den ÖRR fast zu halbieren und die Gebühren einzufrieren.

Grüne für Law and Order

Zudem präsentierten sich alle vier Parteien von Anfang an als rigorose Law-and-Order-Verfechter. Der Liberale Nückel bezeichnete Thiel als „extremen Aktivisten“, der nur seine „Verachtung des Rechtsstaates“ unter Beweis stelle. Und der grüne Bürgerrechtler Oliver Keymis kommentierte schulterzuckend: „Wenn jemand sich nicht an das Gesetz hält, muss er mit den Konsequenzen leben.“ Dass Thiel seinen Protest als zivilen Ungehorsam versteht, war dem Grünen kaum eine Erwähnung wert. Dabei sind die Grünen sonst profiliert wie keine andere Partei in ihrem verständnisvollen Umgang mit zivilem Ungehorsam. Inzwischen versuchen sie alle, den Fall so wenig wie möglich zu thematisieren. FDP-Mann Nückel will sich, wie er WELT sagt, nicht mehr dazu äußern. Ebenso wenig wie die Grünen, die Nachfragen dieser Zeitung nicht beantworteten. Ihre Begründung: „Eine politische Debatte“ zu dem Fall „entbehrt jeder Grundlage“. Auch mehrere angefragte CDU-Abgeordnete lehnten Stellungnahmen ab – obwohl sie sich in früheren Jahren ÖRR-kritisch geäußert hatten. Selbst der Bund der Richter und Staatsanwälte in NRW erklärte auf Anfrage, er sei innerhalb einer Woche nicht imstande, sich zu dem Sachverhalt zu äußern. Einzig die Staatskanzlei antwortete, Thiel könne ja „durch Abgabe der Vermögensauskunft oder durch Zahlung der Forderung die Erzwingungshaft jederzeit unverzüglich selbst beenden“.

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Das trifft zu. Mit Recht verweisen CDU, FDP, SPD und Grüne auch darauf, der Rundfunkstaatsvertrag sei demokratisch legitimiert und durch alle Landesparlamente abgesegnet. Ein staatlich garantiertes Medienangebot müsse finanziert werden, es brauche Gebühren. Eine Begnadigung liefe auf einen Präzedenzfall hinaus, der unabsehbar viele Nachahmer inspirieren könnte. Und das Bundesverfassungsgericht habe die Verfassungsbeschwerde Thiels im April abgelehnt. Dabei stellten die Richter auch klar, dass „mit Erzwingungshaft rechnen“ müsse, wer seiner Beitragspflicht nicht nachkomme.

Sozialer Friede in Gefahr?

Nur: Warum warb keine der vier Parteien „für eine Geste der Entspannung, die vorzeitige Entlassung Thiels? Warum brachte niemand ein bisschen Großmut auf?“ So fragt im Gespräch mit WELT ein führender Christdemokrat aus NRW. Seine Vermutung: Die Angst vor dem Unmut des ÖRR sei groß. Namentlich möchte der Politiker aber nicht erwähnt werden, bei dem Thema könne „man nur unter drei offen reden“, meint er. Als „unter drei“ wird eine Vereinbarung zwischen Politikern und Journalisten bezeichnet, nach der ein Journalist Aussagen eines Politikers nicht zitiert oder gar namentlich zuordnet.

Eine Ausnahme ist der Paderborner Carsten Linnemann, Fraktionsvize der CDU/CSU im Bundestag und Vorsitzender der Mittelstandsunion. Er kritisierte die Erzwingungshaft öffentlich. Dem „Westfalen-Blatt“ sagt er: „Es gefährdet den sozialen Frieden, wenn ein Gewalttäter mit einer Bewährungsstrafe davonkommt, aber jemand, der Rundfunkbeiträge nicht bezahlt, monatelang im Gefängnis landet. Das ist niemandem vermittelbar.“ In der Tat: Wer sechs Monate ohne Bewährung inhaftiert wird, muss in der Regel eine schwere Körperverletzung begangen haben. Aber ein Gewaltdelikt wird nach Strafrecht geahndet, eine verweigerte Gebührenzahlung und Vermögensauskunft nach Zivilprozessordnung. Und die sieht bis zu sechs Monate für Thiels Fall vor. Daran orientiert sich der WDR. Auf Anfrage teilt er mit, die Forderung gegen Thiel bleibe nach der Entlassung bestehen. Der WDR könnte theoretisch also erneut Haft für Thiel beantragen.

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