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Millionen-Deals mit Onlinecasinos So will Twitch Glücksspiel-Zocker ausbremsen

Sogenannte Casino-Streams sind umstritten, weil sie junge Menschen an die Welt des Glücksspiels heranführen. Jetzt geht Twitch dagegen vor – halbherzig und aus Sicht von Kritikern Jahre zu spät.
Onlineglücksspiel (Symbolbild): Auf Twitch sind Casino-Streams ziemlich beliebt

Onlineglücksspiel (Symbolbild): Auf Twitch sind Casino-Streams ziemlich beliebt

Foto: welcomia / IMAGO

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Bekannt ist das Streamingportal Twitch vor allem dafür, dass sich junge Menschen dort Übertragungen von Games wie »Fortnite« anschauen. Wer denkt, auf der Plattform, die zum Handelskonzern Amazon gehört, seien nur klassische Videospiele zu sehen, der sollte einmal Félix Lengyel alias xQc zuschauen. Stundenlang sitzt der 26-Jährige in dem Stuhl vor seinem Computer, im Eiltempo jagt er vierstellige Summen durch einen virtuellen Spielautomaten. Ab und zu holt er sechs- bis siebenstellige Gewinne, doch die meiste Zeit verliert er. Es ist ein ewiges Warten darauf, dass wieder eine hohe Summe aufploppt.

Die Streams von xQc aber sind ein Hit. Im Durchschnitt rund 60.000 Menschen schauen dem französisch-kanadischen Streamer dabei zu, wie er in Onlinecasinos zockt, die ihn genau dafür bezahlen. Zurzeit ist er damit der populärste englischsprachige Streamer auf der Plattform. Am Dienstag jedoch erfuhr xQc, dass Twitch eine seiner wohl lukrativsten Einnahmequellen austrocknen könnte.

16 Stunden saß der schmächtige blonde Mann auch an diesem Tag vor seinem Computer, für sein Livepublikum kommentierte er Videos aus dem Internet, spielte »Call of Duty«, unterhielt sich mit anderen Streamern. Dann schickte ihm jemand einen Link zu einem Tweet von Twitch. xQc schaute zur Seite und las, die Mundwinkel nach unten, die Augen leicht zugekniffen. Twitch hatte soeben verkündet, dass die Plattform in gut einem Monat neue Regelungen veröffentlichen werde, die Glücksspiel-Streams stark einschränken dürften. Streams wie die von xQc. Im nächsten Moment öffnete er ein Onlinecasino und schmiss mal wieder 1000 Dollar in einen virtuellen Automaten. »28 Tage, Bruder«, sagte er grinsend.

Streamer xQc: Hier sieht er seinem Kollegen Trainwreckstv dabei zu, wie dieser in seinem Casino-Stream 15 Millionen Dollar am Spielautomaten gewinnt

Streamer xQc: Hier sieht er seinem Kollegen Trainwreckstv dabei zu, wie dieser in seinem Casino-Stream 15 Millionen Dollar am Spielautomaten gewinnt

Foto: Twitch / xQc

Längst auch ein Internetphänomen

Glücksspiel fand lange Zeit vor allem in Spielotheken, Casinos oder in Kneipen statt, an typischen Erwachsenenorten, im Idealfall mit Ausweiskontrolle. Man denkt an blickdichte Scheiben, an Rauch, der durch die Luft wabert, an blinkende Automaten und klimpernde Münzen. Doch in Zeiten der Onlinecasinos haben solche Klischees ausgedient: Wer will, kann auch mit ein paar Mausklicks von zu Hause aus zocken, bei Anbietern irgendwo im Ausland.

Und dann sind da eben auch die Casino-Streamer, die dem Onlineglücksspiel eine prominente Bühne gebaut haben, die auf Twitch rund um die Uhr bespielt wird – oft mit Minderjährigen im Publikum. Manche junge Menschen schauen auf der Plattform, was in »Minecraft« oder »League of Legends« passiert, andere interessieren sich für »Slots« und damit für eine Kategorie, die zeitweise zu den zehn beliebtesten auf Twitch zählte.

Für seine Glücksspielübertragungen wurde Twitch schon oft kritisiert, vor allem aus der klassischen Gaming-Community heraus. Nach mehreren Jahren hat das Unternehmen nun reagiert, mit einem kurzen Statement . Verboten werden soll demnach das Streamen von Spielautomaten, Roulettepartien und Würfelspielen, wenn keine US-Lizenz oder eine Lizenz aus anderen Ländern mit einem ausreichenden Verbraucherschutz vorliegt, heißt es. Dazu werden vier fragwürdige Angebote wie Stake.com namentlich erwähnt. Die Plattform begründet den Schritt damit, dass einige Streamer verbotenerweise Werbecodes für Onlinecasinos an ihre Community gaben. Erlaubt bleiben sollen unter anderem Pokerspiele und Sportwetten. Bis zur Richtlinienänderung am 18. Oktober sollen weitere Details geteilt werden.

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Twitch lässt Fragen offen

Bei den Glücksspielkritikern kam diese Ankündigung gut an, auch zahlreiche deutsche Streaming-Größen meldeten sich zu Wort. »Leute, wir haben es geschafft«, twitterte Tanzverbot. »OMFG JAAAAAA!!!1!!1!«, kommentierte Trymacs das Twitch-Statement. Und Staiy schrieb auf seinem Twitteraccount: »WE FOKIN DID IT LEUTE! NACH FAST 4 JAHREN IST DER BUMS ENDLICH DICHT.«

Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Freude voreilig war, denn wie die Twitch-Regeln am Ende genau ausfallen, wird man erst im Oktober erfahren. Eine Nachfrage des SPIEGEL, was die Ankündigung für Deutschland bedeutet, ließ Twitch zunächst unbeantwortet.

Klar ist, dass die Casino-Streams auch hierzulande ein lukratives Business sind: für die Glücksspielanbieter, für die Streamer und natürlich für Twitch selbst, das sein Geld unter anderem mit Werbung und Kanal-Abos verdient. MontanaBlack und Knossi, zwei der deutschen Plattform-Ikonen, machten die Streams schon vor einigen Jahren salonfähig. Mitunter mehr als 100.000 Menschen schauten den beiden zu, wie sie online an virtuellen Spielautomaten zockten. 2019 brachen »Monte« und Knossi in einem gemeinsamen Glücksspielstream einen damaligen Twitch-Rekord.

Mittlerweile haben sich beide vom Onlineglücksspiel losgesagt. Zu den Gründen finden sich verschiedene Aussagen. Am Ende war es wohl eine Mischung aus vielen Faktoren: Gewissensbisse, die öffentliche Kritik, verlorene Werbedeals, Ärger mit den deutschen Behörden. Rein rechtlich ist das Werben für illegales Onlineglücksspiel aus Deutschland heraus untersagt, solange die Casino-Anbieter keine deutsche Lizenz haben.

Doch deutschsprachige Fans der Glücksspielstreams bekommen verlässlich Content geliefert. Die deutschen Streamer Orangemorange und Scurrows etwa leben nach eigenen Angaben auf Malta. Der Inselstaat gilt als Paradies für Onlinecasino-Anbieter, weil er bereitwillig Lizenzen austeilt. Ob Malta laut der Twitch-Definition zu den Ländern mit einem ausreichenden Verbraucherschutz zählt, wird sich zeigen.

Onlinecasinos bieten Millionendeals

Was die Livezocker am Thema Glücksspiel reizt, liegt auf der Hand: das Geld. Stars der Streamingszene berichten regelmäßig von Millionendeals, mit denen die Glücksspielfirmen locken. EliasN97 sprach einmal von »einer Million« im Monat , auf die er verzichtete. MontanaBlack schlug laut eigenen Angaben einen Deal über zwölf Millionen Euro aus, Unge einen für fünf Millionen.

Die wenigen Creator, die trotz aller Kritik auch heute noch für Onlinecasinos werben, halten die Debatte am Kochen. Auf der Gamescom entlud sich der Konflikt gar in Handgreiflichkeiten. Eine Gruppe junger Männer tauschte wüste Beleidigungen aus, ein Gerangel bahnte sich an. Tanzverbot, ein lauter Kritiker des Onlineglücksspiels, fluchte vor diversen laufenden Kameras, Orangemorange schlug unkoordiniert. Ein Tiefpunkt der deutschen Twitch-Szene.

Der Streamer Staiy, der rund 300.000 Twitch-Follower hat, setzt sich schon seit Jahren gegen die Glücksspielstreams ein. »Gier frisst Hirn«, fasst er seinen Blick auf die Nische zusammen. »Da wurden Deals angenommen, wo keine ethisch vertretbare Linie mehr ist.« Die Streamer, die Angebote von Casinos bekämen, seien schon vorher in einer privilegierten Position, sagt er dem SPIEGEL: »Die verdienen fünf- oder sechsstellig im Monat. Diese Leute sollten so ein Angebot einfacher ausschlagen können als Personen, die sich fragen, wie sie ihre Gasrechnung in den nächsten Monaten bezahlen sollen.« Hinzu kommt aus Staiys Sicht noch etwas: Das Geld, das die Casinos für die Deals ausgäben, sei letztlich das Geld der eigenen Zuschauer, die von den Streamern zum Zocken verleitet würden.

Zuletzt wuchs der Widerstand gegen die Slots-Streams auch in den USA. Bekannte Streamer wie DevinNash, Pokimane und Mizkif brachten einen möglichen Boykott von Twitch während der Weihnachtszeit ins Gespräch, falls die Plattform das Glücksspiel nicht verbietet. In jenen Wochen sind Twitchs Werbeeinnahmen traditionell am höchsten.

»Ich halte Casino-Streams für relativ gefährlich«

Der Psychologe Werner Gross hält die Kritik an den Casino-Streams für berechtigt. Gross hat mehrere Bücher zum Thema Sucht geschrieben. »Ich halte Casino-Streams für relativ gefährlich«, sagt er dem SPIEGEL. »Den Leuten wird da vorgegaukelt, auch sie könnten die großen Gewinne holen.« Modelllernen heiße das in der Psychologie. »Zuschauer sehen das und denken sich: ›Ich könnte ja auch mal ein paar Cent setzen.‹« Doch aus den paar Cent werde schnell ein höherer Einsatz.

»Für die Sucht sind nicht die Verluste schlimm, sondern die Gewinne.«

Werner Gross, Psychologe

»Für die Sucht sind nicht die Verluste schlimm, sondern die Gewinne«, sagt der Psychologe. Es sei die innere Abhängigkeit, »das Träumen vom großen Schnapp«, sagt Gross. Die »Griffnähe« mache Onlineglücksspiel besonders gefährlich, warnt Werner Gross. »Ich kann einfach im Schlafanzug auf der Couch zocken. Der Gang ins Casino oder die Spielothek als Schwelle fehlt.« Statistisch seien fürs Glücksspiel vor allem junge Männer suchtanfällig, sagt der Psychologe. Dazu sollte man wissen: Die Nutzerschaft von Twitch ist laut Branchenstatistiken überwiegend männlich und größtenteils unter 35 Jahre alt.

Auch der Kritiker hat schon gezockt

Auch Staiy, der lautstarke Kritiker, konnte sich dem Reiz der Glücksspielstreams nicht ganz entziehen, erzählt er. »Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie suchterzeugend es sein kann, das so präsentiert zu bekommen«, sagt er. Er habe die Streams von Knossi und MontanaBlack geschaut. Dabei habe er gemerkt, wie ihn »die Lust überfallen hat, das selbst zu machen«, sagt Staiy. »Als privilegierter Content Creator, der ich bin und war, konnte ich mir das auch leisten.«

Das Erwachen kam schnell, morgens beim Friseur, erzählt der Mittdreißiger. »Während ich auf dem Stuhl saß, ist mir aufgefallen, dass ich die zwei Stunden vor diesem Termin online am Automaten gehangen hatte«, erinnert sich Staiy. Dann habe er Bilanz gezogen. Das Ergebnis: In einer Woche hatte er rund 2000 Euro verzockt, als jemand, der glaubte, nicht groß anfällig fürs Glücksspiel zu sein. »Das ist ein guter Monatslohn von jemandem mit einem normalen Job«, sag Staiy. »Da habe ich die Reißleine gezogen.« Twitchs jetzigen Vorstoß nennt Staiy einen »ersten, wichtigen Schritt«.

»Ein erster, wichtiger Schritt von Twitch«

Staiy, Twitch-Streamer

Den deutschen Casino-Streamer Orangemorange schien Twitchs Ankündigung derweil kaltzulassen. Als er am Mittwochmittag seinen Stream startete, witzelte er über die Kommentare seiner Kritiker. »Wenn du so viel gemacht hast, dass du bis an dein Lebensende keine Geldsorgen mehr haben brauchst, dann ist egal, ob Casino verboten wird«, sagte Orangemorange, der selbst schon Werbecodes an seine Zuschauer verteilt hat. Oben rechts in seinem Stream findet sich seit einiger Zeit ein Hinweis an sein Publikum, dass Glücksspiel süchtig machen könne und der Stream lediglich der Unterhaltung diene.

Wenn seine Deals bis zur Änderung der Richtlinien am 18. Oktober weiterliefen, dürfe er sich »laut Definition Multimillionär nennen«, sagte der 29-Jährige am Mittwoch live auf Twitch. »Das würde mich sehr freuen.«