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Reportage über Lotto-Millionär (1996) "Hier ist Totentanz"

Lothar Kuzydlowski bekam Sozialhilfe, als er den Jackpot knackte. Mit Millionen in der Tasche verspielte "Lotto-Lothar" das Leben - eine preisgekrönte Reportage von Thomas Hüetlin, wiederentdeckt zum 70. SPIEGEL-Geburtstag.
Foto: DER SPIEGEL

Diese Reportage aus dem SPIEGEL, Ausgabe 52/1996, gewann 1997 den 3. Egon-Erwin Kisch-Preis. Lotto-Millionär Lothar Kuzydlowski ist 1999 im Alter von 52 Jahren gestorben.


Achtmal hat Lothar Kuzydlowski in diesem Jahr Urlaub gemacht, und weil draußen Schnee fällt, seine Frau ihm auf die Nerven geht und seine Stammkneipe seit dem Umzug 120-Taxi-DM entfernt liegt, kommt bald Urlaub Nummer neun.

"Noch kurz vor Weihnachten nach Jamaika, zu den Kaffeebraunen", flüstert Kuzydlowski, während seine Frau neben ihm in einer Schrankschublade herumfuhrwerkt. Seine Frau trägt eine blaue Arbeiterlatzhose. Kuzydlowski ein weißes Hotel-T-Shirt aus Mauritius. "Ja, so ist das bei uns", sagt er, "meine Frau macht die Arbeit, und ich gucke zu. Wenn sie oben im Haus fertig ist, kann sie unten wieder anfangen."

Seine Frau erinnert ihn daran, daß er morgen einen Termin beim Steuerberater hat. Kuzydlowski nickt, als habe er verstanden. Es ist elf Uhr vormittags, das Wohnzimmer hat Karibiktemperatur, und er liegt noch ein paar Bier hinten.

"Ich trinke immer noch das gleiche Schweinebier wie früher", sagt Kuzydlowski, zieht den Bauch ein und wackelt mit den dünnen Armen, "das Lindener Spezial."

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Früher, das waren die meisten der 48 langen Jahre vor jenem Samstag abend im August 1994, als Kuzydlowski im Lotto 3,9 Millionen Mark gewann, sich, begleitet von der deutschen Boulevardpresse, einen roten Lamborghini kaufen ging und für ein paar Tage seinen plötzlichen Reichtum als "Lotto-Lothar" in großen Schlagzeilenbuchstaben feierte. "Lotto-Lothar verschenkt erstes Geld", titelte Bild. "Zuerst Freund Rolli. Dann Mama. Und die Ex-Frau?" Zwei Wochen lang dauerte die "Lotto-Lothar"-Party. Dann verschwand er mit Frau, Tochter, den zwei Hunden und einem VW-Bus in Richtung Dänemark.

"Lotto-Lothar" war das gelungen, was rund 18 Millionen Deutsche jede Woche vergeblich versuchen: Er hatte gewonnen. Er war seinem Verlierer-Schicksal entkommen, ohne daß er sich groß angestrengt, nachgedacht oder gar in Bewegung gesetzt hätte. "Lotto-Lothar" hatte überhaupt nichts getan. Er hatte nur Glück gehabt. Und in einer Nacht soviel Geld kassiert, wie er sonst in drei Leben kaum hätte verdienen können, wenn alles gutgegangen wäre. Nur war damals schon eine ganze Weile nichts mehr gut gelaufen. Als er den Jackpot knackte, bekam der Mann Sozialhilfe: Genau 1265 Mark. Jeden Monat.

Er beschloss, ein "normales Leben" zu führen

Es gab nicht wenige, die schon bald nach seinem Glückstag "Lotto-Lothar" in den schnellen Ruin rasen sahen samt Lamborghini, dem Gold an seinen Armen und den vielen Nullen nach der Drei, die ihm jetzt gehörten.

Weil einer wie er nicht weiß, wie man eine Forelle ißt, immer zuviel trinkt und auch sonst keine Manieren hat.

Weil einer wie er eine Kette trägt, auf der dreimal der Buchstabe "L" steht ("Lotto, Lothar, Lambo"), und auch sonst keinen Geschmack hat.

Weil einer wie er nur selten ein Buch liest, nur Simmel und Jerry Cotton, sein größtes Idol John Wayne ausspricht, als handele es sich um einen Chinesen: Yon Wein. Und auch sonst keine Bildung hat.

Weil einer wie er für Liberale, CDU-Freunde und SPD-Lehrer, kurz, für die große Koalition deutscher Mittelstands-Bonvivants nie mehr sein wird als armer, reich gewordener Abschaum: ein Sozialfall mit Millionen.

Deshalb traut Lothar Kuzydlowski dem Luxus nicht mehr und hat beschlossen, das zu führen, was er ein "normales Leben" nennt. Deshalb hat er noch rund zwei Millionen auf der Deutschen Bank liegen. Deshalb meidet er die Spielbank in Hannover ebenso wie das Land Amerika, denn "Amerika, das ist für mich Las Vegas, und da verspiel' ich alles". Deshalb setzt er sich nicht mit drei Saufkumpanen in die zweite Reihe beim letzten Maske-Kampf in München, denn "so ein Wochenende kostet mich 6000 Mark, und ich hab' das Geld nicht zum Wegschmeißen". Deshalb hat er kein Haus mit Swimmingpool und Sauna gekauft, sondern diesen komischen Klinkerkasten, vollgestellt mit Billigmöbeln aus dem Baumarkt, im niedersächsischen Eltze, wo die einzige Attraktion ein griechisches Gasthaus in der Mitte ist und ein Aldi-Markt ein paar Orte weiter.

Als Hindernis erwies sich nur, daß in Kuzydlowskis Leben trotzdem nichts normal wurde. Jeden Morgen wacht er um halb sechs auf, kocht Kaffee und wartet darauf, daß etwas passiert. Er hat eine Tochter, drei Hunde, drei Pferde, einen Garten und 17 Kaninchen. Aber er interessiert sich nicht für die Hunde, nicht für die Pferde, nicht für den Garten und für die Kaninchen erst, wenn sie als Braten auf dem Tisch stehen.

Seine Frau rackert von halb acht morgens bis zehn Uhr am Abend. Kuzydlowski sitzt auf dem Sofa. "Sie wollte ja hier raus aufs Land", jammert er, "nicht ich. Hier draußen ist Totentanz."

"Nach Hannover höchstens zur Hundeausstellung"

Den Totentanz bekämpft er mit Alkohol, einem elektrischen Dart-Spiel und mit warmen Mahlzeiten, die seine Frau kocht. Heute gibt es Kasseler mit Sauerkraut, und seinen Bierrückstand versucht Kuzydlowski jetzt wettzumachen. Der Tisch wird von einer Plastiktischdecke und von einem Pappkarton geschmückt. Auf dem Karton steht: "Insectex-Fliegenfrei für das Haus".

Kuzydlowskis Kopf hängt müde in den Schultern. Dummerweise überlegt er dazu laut, ob es richtig war, Boris Beckers Tennisdramen vor drei Wochen im Fernsehen anzusehen und nicht vor Ort. Nicht, daß er groß von Tennis Ahnung hat, aber wenn Boris schon mal in Hannover sei. "Was hättest du denn da gewollt", schimpft seine Frau, "da kriegst du ja noch eine Lungenentzündung, wenn du dich in den Matsch da stellst."

"Das war doch in der Halle", murmelt Kuzydlowski.

"Nach Hannover höchstens zur Hundeausstellung", beschließt seine Frau. Danach streiten sie, wer den Flaschenbodenabdruck auf der Tischdecke verursacht habe. "Da vorne liegt der Lappen", sagt Kuzydlowski und versucht ein Siegerlächeln. "Wir sind froh, wenn du wegfliegst", keift seine Frau. "Sagt mein Fahrlehrer auch schon: ,Der muß doch langsam wieder raus.'" Kuzydlowski öffnet sein viertes Bier. Ein Vogel namens Henry, der in der Eßzimmerecke seinen Käfig hat, konzentriert sich auf das, was Frauchen ihm beigebracht hat: Er wiehert wie ein Pferd. Vorläufiger Waffenstillstand in der Ehehölle.

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Bevor ihm seine Frau sagte, wo es langgeht, taten es seine Eltern. Dann der Bruder. Dann der Chef. Dann das Arbeitslosenamt. Dann der Gerichtsvollzieher. Dann das Sozialamt. Lothar Kuzydlowski wurde selten gefragt, was er vom Leben wollte. Er mußte wollen.

Er wuchs auf mit zwei Brüdern in Hannover-Kleefeld, in einem Zimmer, besaß zum Spielen nicht mehr als ein selbstgeschnitztes Holzgewehr, verbrachte die Ferien im Schrebergarten seines Vaters und wagte erst als Spätjugendlicher einmal eine Entscheidung: Er brach seine Lehre als Großhandelskaufmann ab. "Die anderen fuhren alle Mofa, ich hatte kein Geld", sagt Kuzydlowski. Sei von heute aus ein Fehler gewesen. "Danach bin ich arbeiten gegangen."

Arbeiten hieß: Er räumte den Dreck anderer Leute weg bei der Bundesbahn, bei der Bundeswehr, später für ein paar Hotels, ehe er sich als Lastwagenfahrer ein Bein brach und Teppichleger wurde. Dazwischen immer wieder Arbeitslosigkeit, und irgendwann rechnete sich Kuzydlowski aus, daß es eigentlich keinen besseren Chef als das Sozialamt gebe. Die zahlten immer und hatten nützliche Tips: Zum Beispiel, heiraten Sie ihre Freundin Andrea, das ist finanziell günstiger. "Da hat's gefunkt", sagt Kuzydlowski. "So einfach ist Tennis."

Auch wenn kein Geld da war, Lotto gespielt wurde immer

Ohne Bankkonto, ohne Auto lebten die Kuzydlowskis mit einem Baby und zwei großen Hunden in einer Dreizimmerwohnung, und zu den Bekannten, die regelmäßig zu Besuch kamen, zählte bald der Gerichtsvollzieher. Kuzydlowski kaufte gern auf Raten, bezahlte aber eher selten. "Der Gerichtsvollzieher war nett", erzählt Frau Kuzydlowski. "Der sagte, hier, unterschreib mal. Ich weiß doch, daß es hier nichts gibt." Er habe ja recht gehabt. Die Couch sei vom Sperrmüll gewesen, der Teppichboden von Freunden, die gestorben waren. Nur Lotto gespielt wurde immer. Und wenn sich Kuzydlowski das Geld dazu von seiner Mutter leihen mußte.

Wer einmal so gelebt hat, der kauft sich natürlich einen roten Lamborghini, wenn er Geld hat, und tut auch sonst all die Dinge, von denen arme Leute denken, daß sie reiche Leute toll finden. Versucht ein Held zu sein.

Visual Story zum SPIEGEL-Jubiläum

Donnert die Dorfstraße runter, daß "die Kühe von der Weide rennen". Geht in die Bank, quittiert die Frage, ob er einen Kaffee möge, mit der Antwort: "Bringen Se mir 'nen Wodka-Flachmann", und freut sich, wenn der Bankdirektor den Lehrling die Flasche im Kiosk gegenüber holen läßt. Erzählt im Reisebus vor den Pyramiden auf die Frage, ob er ein Kamel reiten wolle: "Nee, hab' ja zu Hause eins, meine Frau." Verliert den Führerschein mit 1,54 Promille, "weil mich einer in der Kneipe angeschwärzt hat". Besorgt sich zwei scharfe Waffen und fuchtelt damit daheim herum. Muß nie mehr arbeiten. Außer mittwochs und donnerstags: "An dem einen Abend ist Skatrunde, am anderen Pokerrunde."

Frau Kuzydlowski steht jetzt in der guten Stube ihres In-unserem-Haus-muß-allesschmecken-Nirwanas vor dem Regal. Ein Buch von Simmel lagert darin, ein paar Videokassetten zur Kinderbetäubung und eine mit dem Aufkleber "Lothars Geburtstag".

Sie legt das Band ein. Volles Rauschen, zehn Minuten kein Bild. Dann unscharf ein halbleerer Saal, auf einer Bühne stehen sechs Männer mit Cowboyhüten und Musikinstrumenten. "Das war Lothars Fünfzigster", sagt Frau Kuzydlowski. "Ich hab' ihm einen Auftritt von der Hamburger Gruppe Truck Stop geschenkt. Hat 25 000 Mark gekostet."

Dann versucht ein Mann mit schwarzem Fransenhemd und schwarzem Hut die Bühne zu betreten, den Blick am Boden, die Hände in die Hosentaschen gestemmt. "Das bin ich", sagt Lothar Kuzydlowski stolz, "ich hatte schon ganz schön einen hängen."

Einer der Truck-Stop-Cowboys zerrt Lothar ans Mikrofon, er soll sein Lied singen. Lothar will nicht, ist betrunken, hat den Text vergessen. Nur den Refrain nicht: "So allein."